Dschihadistische Kämpfer in Syrien haben bei ihrem Vorrücken im Norden des Landes Aktivistenangaben zufolge die Hälfte der Stadt Aleppo erobert. „Die Hälfte der Stadt Aleppo ist jetzt unter der Kontrolle von Hajat Tahrir al-Scham und verbündeten Gruppen“, sagte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, der Nachrichtenagentur AFP am Samstag. „Als die Regimekräfte sich zurückzogen gab es keine Kämpfe, nicht ein einziger Schuss ist gefallen“, fügte Rahman hinzu.
Die syrischen Behörden haben laut Angaben aus Militärkreisen unterdessen den Flughafen Aleppos geschlossen und alle Flüge gestrichen. Außerdem erwarte man zusätzliche Militärhilfen aus Russland, um die Übernahme der Provinz Aleppo durch die Feinde von Präsident Bashar al-Assad abzuwenden, so zwei Militärangehörige gegenüber Reuters. Damaskus rechne damit, dass die russische Militärtechnik in den nächsten 72 Stunden auf dem Militärstützpunkt Hmeimim in der Nähe der syrischen Küstenstadt Latakia eintreffen werde.
Überraschenden Großoffensive
Der syrische Ableger des Terrornetzwerkes Al-Kaida, Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und verbündete Gruppen hatten am Mittwoch eine überraschende Großoffensive gegen die Streitkräfte der syrischen Regierung gestartet – es sind die heftigsten Kämpfe seit dem Jahr 2020. Rahman zufolge drangen sie am Freitag in die Großstadt Aleppo ein. Die Region wurde bisher größtenteils von der Regierung kontrolliert.
Die Provinz Aleppo grenzt an die letzte große Rebellen- und Dschihadisten-Hochburg Idlib. HTS-Kämpfer kontrollieren große Teile von Idlib, aber auch angrenzende Gebiete in den Regionen Aleppo, Hama und Latakia. Aus Kreisen der Rebellen hieß es, Kämpfer seien vom Süden und Westen nach Aleppo vorgerückt und hätten bisher mehr als 50 Orte in der Umgebung unter ihre Kontrolle gebracht. Darunter war nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte auch die Ortschaft Sarakeb, die entscheidend für die Kontrolle der Verbindungsroute zwischen der Hauptstadt Damaskus und Aleppo ist.
Russische Luftwaffe bombardiert Rebellen
Rahman zufolge leistete die syrische Armee beim Vorstoß der Dschihadisten auf Aleppo bereits zuvor keinen nennenswerten Widerstand. Die syrische Regierung hatte hingegen mitgeteilt, die Armee habe die „Großoffensive bewaffneter Terrorgruppen“ auf Aleppo abgewehrt und mehrere Stellungen zurückerobert. Die syrischen Truppen wurden vom Verbündeten Russland unterstützt. Moskaus Luftwaffe bombardierte laut russischem Verteidigungsministerium „Ausrüstung und Personal illegaler bewaffneter Gruppen“ in Syrien.
Augenzeugen in Aleppo berichteten der Deutschen Presse-Agentur von Rebellen, die mit ihren Fahrzeugen im westlichen Teil Aleppos gesehen wurden. Sie hätten Bilder des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zerrissen. Andere Anwohner berichteten von Gefechtslärm und Explosionen, die in der Stadt zu hören waren.
Nach Angaben der Beobachtungsstelle wurden seit Mittwoch mindestens 277 Menschen getötet, ein Großteil von ihnen Kämpfer auf beiden Seiten, aber auch Zivilisten.
Die Beobachtungsstelle mit Sitz in Großbritannien bezieht ihre Informationen aus einem Netzwerk verschiedener Quellen in Syrien. Ihre Angaben sind von unabhängiger Seite kaum zu überprüfen.
Offensive wohl länger vorbereitet
Die Gefechte hatten am Mittwoch begonnen. Die Allianz islamistischer Rebellen nennt ihre neue Offensive „Abschreckung der Aggressionen“.
Beobachter gehen davon aus, dass die Offensive seit Monaten von den Rebellen geplant worden war. Schon in den vorigen Wochen hatte sich die Lage immer weiter zugespitzt.
Russland verurteilt den unerwarteten Vormarsch islamistischer Rebellen auf die Stadt Aleppo als Angriff auf die Souveränität Syriens. „Natürlich ist das ein Eingriff in die Souveränität Syriens in dieser Region“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow in Moskau. Seine Worte legten aber nahe, dass Moskau sich nicht in der Verantwortung sehe, die Offensive zu stoppen. „Wir sind dafür, dass die syrischen Behörden so schnell wie möglich Ordnung in die Region bringen und die verfassungsmäßige Ordnung wiederherstellen“, sagte er der staatlichen Nachrichtenagentur Tass zufolge.
Aleppo war in den ersten Jahren des syrischen Bürgerkriegs stark umkämpft und wurde schwer verwüstet. Damals wurden die Aufständischen vom syrischen Militär und seinen Verbündeten gewaltsam aus dem östlichen Teil der Stadt vertrieben. Die Schlacht um Aleppo galt als eine der schlimmsten in dem seit 2011 andauerndem Bürgerkrieg in Syrien. Idlib ist seit Jahren in der Hand der Aufständischen.
Der UN-Koordinator fordert Hilfe
Seit dem jüngsten Ausbruch der Kämpfe sind nach Angaben der Vereinten Nationen rund 14.000 Menschen in der Umgebung von Idlib und westlich von Aleppo vertrieben worden.
Viele Bewohner flohen Augenzeugen zufolge aus den betroffenen Gebieten aus Angst vor einer Eskalation. „Die Leute haben Angst. Ich packe meine Sachen und meine Familie und fahre in Richtung Damaskus“, sagte ein Anwohner im Westen Aleppos der dpa.
Die Lage verschlechtere sich insbesondere für die Zivilbevölkerung, betonte der stellvertretende regionale UN-Koordinator für humanitäre Hilfe in Syrien, David Carden. „Wir erhalten Berichte über Kinder mit mehreren Verletzungen durch Schrapnell“, sagte er.
Der Bürgerkrieg in Syrien hat das Land völlig gespalten. Präsident Baschar al-Assad geriet zeitweise schwer unter Druck, kontrolliert mit Hilfe seiner Verbündeten Russland und Iran inzwischen aber wieder zwei Drittel des Landes. Der Nordwesten ist teilweise unter Kontrolle von Oppositionskräften. Eine politische Lösung für den Konflikt ist nicht in Sicht. Infolge des Bürgerkriegs sind Millionen Syrer ins Ausland geflohen – viele auch nach Europa.