Die Euterpe oleracea, besser bekannt als Acai-Beere, wächst in Südamerika auf Palmen. Jedes Land mit einer solchen Resource sollte sich als gesegnet betrachten, allerdings muss jemand auf die Palmen klettern, und die Früchte nach unten reichen, wo sie in flachen Schalen gesammelt werden.
Die Acai-Beere hat das Image, besonders gesundheitsfördernd zu sein. Nach Europa kommt sie am ehesten als Pulver, oder als Bestandteil von Energy Drinks. Im Amazonasdelta ist sie ein Grundnahrungsmittel, wie man auch aus dem Film „Manas“ von Marianna Brennand ersehen kann. Der beginnt in einer Hütte am Wasser, an einem schmalen Übergang zwischen Regenwald und Meer. Hier lebt ein 13 Jahre altes Mädchen namens Marcielle mit ihren Eltern, zwei Brüdern und einer kleinen Schwester. Eine ältere Schwester namens Claudinha ist schon seit längerer Zeit verschwunden. Marcielle, gerufen wird sie Tielle, war noch zu klein, um sich eine Vorstellung zu machen, was vielleicht passiert sein könnte.
„Manas“ entwirft von dieser Hütte aus einen lokalen Kosmos mit einer schrecklichen Ökonomie. Die Acai-Beere spielt dabei eine ähnliche Rolle wie die Shrimps, die aus dem Meer geholt werden. Der Atlantik ist hier, auf der Ilha de Marajó, schon ganz nahe. Ab und zu taucht ein Kahn auf, der an der Hütte von Tielle vorbei nach Manaus oder tiefer hinein in den Regenwald fährt. Das ist der Moment, in dem die Halbwüchsigen ein Boot besteigen und hinausfahren, um auf den „Bargen“ ihre Lebensmittel zu verkaufen.
Das Thema von „Manas“ ist allerdings das Geschäft, das mit diesen „Bargenmädchen“ eigentlich stattfindet: sie verkaufen nämlich auch sich selbst, zum Teil schon in einem Alter, in dem sie auch vor dem Gesetz noch Kinder sind. Die Regisseurin erzählt das alles strikt so, dass Tielle das Medium wird, das all das erfahrbar macht – mit allen seinen Rätseln, Verführungen, Zwängen. Und mit einem weiteren dunklen, offenen Geheimnis im Hintergrund. Denn der Missbrauch beginnt in vielen dieser Familien schon daheim. Väter nähern sich ihren Töchtern, und überschreiten dabei jede Grenze.
Schon in Venedig ausgezeichnet
Am vergangenen Freitag wurde „Manas“ beim Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg (IFFMH) mit dem Hauptpreis, dem International Newcomer Award, ausgezeichnet. Und zwar nicht nur seines bewegenden Themas wegen, sondern auch, weil Marianna Brennand einem engagierten Kino wichtige erzählerische Wege weist. Diese eigentümliche Spannung, dass das Kino es erlaubt, jemand ins Gesicht zu sehen, während wir eigentlich die ganze Zeit auch mit dieser Figur denken, um sie und mit ihr bangen, nennt man üblicherweise Identifikationskino.
Wenn ein solches Kino sich mit einer nachgerade systematischen Erschließung von sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Vorgängen verbindet, kommt etwas heraus, das man als eine Aktualisierung eines früheren „Dritten Kinos“ sehen kann. So nannte man während der Systemkonkurrenz viele Versuche, zwischen dem Hollywood-Kommerz und dem kodifizierten kommunistischen Kino einen dritten Weg zu finden, auf Seiten der damaligen „Dritten Welt“.
„Manas“ hatte erst vor wenigen Wochen in Venedig Weltpremiere, dort in der Nebenreihe „Giornate degli Autori“, schon da gab es einen Preis. Nun kommt es darauf an, ob er in Deutschland ein Publikum finden könnte – ob ein Verleih einsteigt, oder zumindest ein Streamer wie Mubi oder Sooner. Das IFFMH hat sich zuletzt als eine wichtige Drehschreibe etabliert, ganz am Ende der Saison kann man hier eine produktive Nachbereitung des Festivaljahrs erleben. In diesem Jahrgang bot das Programm einige auffällige neue Positionen von Frauen. Ganz ähnlich wie Marianna Brennand in „Manas“ geht Sandhya Suri in „Santosh“ vor.
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Here too, a protagonist opens up a whole world, namely the complicated social stratification in India. Santosh Saini is a young widow, her husband died in the police service, she is offered his job – and benefits from a government program to increase equal opportunities. Soon, Santosh finds herself in the middle of a case that takes her to a village inhabited by Dalit people, a group often referred to as “untouchables.” Every step of their investigation reveals aspects of coexistence in India: religion, income, status, the differences are enormous, but above all, male dominance and ignorance continue to prove decisive.
Sandhya Suri talks about it with a calmness that could almost be confused with apathy, but this attitude is only the condition for a sensitive registration of even the tiniest details. When Santosh speaks for the first time with a superior who soon becomes something like her mentor, she quotes a sentence from Gandhi – which less than characterizes her as an individual, but rather puts the story of “Santosh” in relation to an original claim that independent India had in itself.
The historical field of reference also contains a film-historical one: the period of decolonization grew out of the post-war period, which was characterized in the cinema by neorealism, i.e. by a movement that was based on an ethos of dignity (and an initial overcoming of degradation through representation). “Manas” and “Santosh” bring this attitude into a present that squanders scraps of concerns every second. With their dramaturgies, which rely on concentration and patience, Marianna Brennand and Sandhya Suri create new space for the cinema – in Mannheim, for example, in the Cinema Quadrat, an exemplary municipal cinema.
After the IFFMH, festival operations don’t take a break. If you wanted, you could go to Havana in December and explore Latin America in more detail, or to Jeddah, where Saudi Arabia is investing a lot of money in its entry into world cinema. From Germany, however, the focus is now on the Berlinale, which, with its new artistic director Tricia Tuttle, will also work on either giving talents like Marianna Brennand or Sandhya Suri a stage for their upcoming films – or giving them a productive one with new names to make competition.