The anger after the flood

The anger after the flood

Auf die Schockstarre folgt die Wut. Die schlimmste Naturkatastrophe seit mehr als einem halben Jahrhundert in Spanien setzt bisher unbekannte destruktive Kräfte frei. Die Frustration in Valencia ist groß. Selbst vor dem Königspaar macht sie nicht halt – so etwas gab es in Spanien noch nie: Einwohner bewarfen Felipe und Letizia mit dem Schlamm, der ihre Häuser überflutete und mehr als 200 Menschen erstickte, zahlreiche werden noch vermisst. Einige Anwohner prügelten sogar auf den Regierungschef ein, der die Flucht ergriff; sein Wagen wurde beschädigt. Die Regierung beschuldigt Rechtsex­treme. Eine Organisation, die der Vox-Partei nahesteht, bietet den Angreifern ihre Anwälte an.

Die Wassermassen sind zu einer der größten Bewährungsproben für die spanische Politik geworden. Verzweifelte Opfer und entsetzte Nachbarn fangen an, von Staatsversagen zu sprechen, weil die Hilfe für viele so lange auf sich warten ließ. Bevor die Armee kam, machten sich Zehntausende in Gummistiefeln und mit Schrubbern ins Katastrophengebiet auf. Sie zeigten auf beeindruckende Weise, wie solidarisch und warmherzig das Land in größter Not sein kann. Aber es war auch ein stiller Protestmarsch gegen den schwerfälligen Staat – und besonders gegen die Politiker der beiden großen Parteien, die in Madrid und Valencia regieren.

Wertvolle Zeit verstrich ungenutzt

Spanien braucht alle seine Ressourcen, um diese humanitäre Krise zu bewältigen. Die letzten Toten sind noch nicht geborgen. Doch es breitet sich wieder die alte „Crispación“ aus, die das Klima immer mehr vergiftet: ständige Gereiztheit und ein Generalverdacht gegen das andere politische Lager. Der Eindruck beginnt sich festzusetzen, dass die in Valencia regierende konservative PP und die sozialistische PSOE-Partei von Pedro Sánchez in alte Reflexe verfallen. Statt schnell und zupackend zu reagieren, scheinen sie wieder zu taktieren. Die Spanier wollen und dürfen auch nicht am Ende die Verlierer einer weiteren profilierungssüchtigen politischen Partei sein.

Es dauerte vier Tage, bis sich der konservative Regionalpräsident Carlos Mazón dazu durchrang, bei der Zentralregierung 5000 Soldaten anzufordern, und Minister aus Madrid einlud, an Arbeitsgruppen in Valencia teilzunehmen. Sánchez wiederum hätte längst den nationalen Notstand ausrufen und das Heft selbst in die Hand nehmen können. Wertvolle Zeit verstrich ungenutzt, in der sich vielleicht noch Lebende hätten bergen lassen und in denen Überlebende ohne Trinkwasser auf Hilfe warteten. Erst am Montag waren endlich 17.000 Soldaten und andere Sicherheitskräfte im Einsatz.

Das Verhältnis zwischen der Zen­tralregierung in Madrid und den Regionalregierungen wie in Valencia ist komplex, oft blockieren sich beide Seiten und streiten – wie jetzt wieder – über Zuständigkeiten. Doch für die Bürger ist nicht ausschlaggebend, ob der linke Ministerpräsident oder der rechte Regionalpräsident das Kommando hat. In den Schlammmassen entscheidet sich, ob sie ihrem Staat und den Parteien weiter vertrauen.

Endloser Streit

Doch in Spanien ist der Abgrund, der die beiden politischen Lager trennt, derart tief, dass größere Koalitionen wie in Deutschland selbst in größter Not undenkbar sind. Schon kurz nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie verbissen sich Spaniens Linke und Rechte in einen endlosen Streit. Bei der Katastrophenhilfe rächt sich besonders eine Unsitte: Nach einem Regierungswechsel – wie 2023 in Valencia – besetzen die Sieger auch im Apparat alle wichtigen Stellen mit eigenen Gefolgsleuten, die erfahrene Mitarbeiter an den Rand drängen, an denen es in Spanien nicht mangelt. Die Politik der Vorgängerregierung wird meist komplett rückgängig gemacht. So schloss der konservative valencianische Regierungschef die neue regionale Notfalleinheit UVE und nahm offenbar den Alarm des staatlichen Wetterdienstes nicht ernst: Erst zwölf Stunden später, als das Wasser zum Teil schon zwei Meter hoch stand, warnte der regionale Zivilschutz die Bevölkerung.

Abwarten ist lebensgefährlich angesichts der Folgen eines Wandels, der sich am Mittelmeer immer deutlicher zeigt. Der Pegel und die Wassertemperaturen steigen. Die Unwetter häufen sich, werden heftiger und nehmen kaum ein Ende. Am Montag suchte die Regenfront Barcelona heim, zuvor Almería und Cádiz. Die ganze Mittelmeerküste ist in Gefahr, knapp drei Millionen Spanier leben in poten­tiellen Überschwemmungsgebieten. Nicht nur Spanien muss sich schützen.

Dafür braucht es einen langen Atem – dazu viele Milliarden Euro und vor allem Weitsicht, wie sie schon einmal Valencia bewiesen hat. Nach der „großen Flut“, wie sie 1957 mit 81 Toten hieß, leitete man mit einem Mammutprojekt den Fluss Turia um. Sein neues Bett bewahrte die Innenstadt vor der viel größeren Flut der vergangenen Tage. Ähnliche Pläne liegen seit mehr als einem Jahrzehnt in den Schubladen. Politiker aus beiden Lagern kümmerten sich jedoch nicht ernsthaft darum.

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