Es lief bereits die 89. Minute als er an der Seitenlinie stand. Seine Mannschaft führte 6:0, das Spiel war längst entschieden im nicht einmal halb gefüllten Stadion von Solna. Isac Lidberg aber erlebte am vergangenen Dienstagabend den bedeutungsvollsten Moment seiner bisherigen Laufbahn als Fußballspieler. Denn er trug das gelbe Trikot mit dem Kreuz auf der Brust, als er das Feld betrat. Seine Einwechslung beim Nations-League-Spiel gegen Aserbaidschan machte ihn offiziell zum Nationalspieler Schwedens.
Ein Traum sei in Erfüllung gegangen, sagte Lidberg einer Reporterin des „Aftonbladet“ nach dem Spiel. Ein Glücksgefühl, das der Familienmensch Lidberg teilen wollte. „Ich hatte 25 Karten bekommen, es war eine Menge Familie auf der Tribüne. Ich glaube, sie waren alle stolz.“
Zehn Tage zuvor schien Lidberg die Möglichkeit, erstmals für sein Heimatland zu spielen, noch in weiter Ferne. Dabei hatte der 26 Jahre alte Stürmer im Zweitligaspiel gegen Hertha BSC (3:1) schon wieder ein Tor erzielt, sein neuntes im zehnten Spiel. Mit dem Kopf hatte er den Ball zum zwischenzeitlichen 2:1 für die „Lilien“ ins Netz gedrückt, obwohl er vorher nach einem Zusammenstoß mit einem Gegenspieler einen Verband um den Schädel gelegt bekam.
„Ich treffe zwar fast in jedem Spiel“, sagte Lidberg den Reportern hinterher. „Aber es wird hart, zur Nationalmannschaft zu kommen, wenn ich nur in der zweiten Liga spiele.“ Es war eine Feststellung, inhaltlich präzise, nüchtern vorgetragen, die Lidbergs Klarheit ausdrückte. Täglich spricht er mit seinem Vater Martin, einem ehemaligen olympischen Ringer. Die Gespräche dienen der mentalen Vorbereitung auf den Wettkampf, erzählte Lidberg der F.A.S. vor Wochen. Alles ausschöpfen, das sei das Ziel. „Damit ich, wenn ich aufhöre, Fußball zu spielen, nichts bereue.“
Er hatte also nachgedacht über die Nationalmannschaft, das entnahm man dieser Feststellung. Er hatte nachgedacht über die Stürmer, die Schweden gerade zur Verfügung hat. Und war zu dem Schluss gekommen, dass er unmöglich bald zu diesem Kreis gehören würde.
Da ist Alexander Isak, 25. Den holte Borussia Dortmund als 17 Jahre altes Ausnahmetalent. Er musste einige Jahre in San Sebastián verbringen, um zu einem Stürmer internationaler Klasse zu reifen. Heute aber trifft er für Newcastle United im Schnitt in jedem zweiten Spiel und zählt zu den besten Angreifern der Premier League.
Da ist Viktor Gyökeres, 26, mit dem Lidberg in dieselbe Grundschulklasse ging. Vor fünf Jahren verbrachte auch der mal eine Saison in der zweiten Bundesliga. Für St. Pauli schoss er sieben Tore in 28 Spielen. Im Vergleich zu Lidbergs ersten Monaten in Darmstadt wirkt das wenig aufregend. Aber Gyökeres’ Karriere hat längst Fahrt aufgenommen. Ein Wechsel von Sporting Lissabon zu einem der größten Klubs der Welt scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
Als Lidberg im Sommer nach Darmstadt wechselte, bezeichnete er Gyökeres als sein Vorbild und den „besten Stürmer der Welt“. Als er am Mittwoch vergangener Woche für den verletzten Hugo Bolin (Malmö FF) nachnominiert wurde, schrieb er aufgeregt zuerst Gyökeres eine Nachricht auf dem Handy. Als er am Dienstag in Solna eingewechselt wurde, verließ Gyökeres für ihn das Spielfeld (nachdem er vier Tore geschossen hatte).
Lidbergs Umwege waren noch etwas weiter
Es ging rasch nach oben für Isac Lidberg in den vergangenen Monaten. Das immerhin hat er mit seinen prominenten Landsleuten gemein. Und wie sie musste er einige Umwege nehmen. Nur waren Lidbergs Umwege noch etwas weiter.
Mit 16 Jahren debütierte er für den Verein Hammarby in der Allsvenskan, der höchsten schwedischen Fußballliga. Nie zuvor war ein Spieler des Stockholmer Klubs jünger gewesen. Was das Glück noch größer machte, Hammarby war der Lieblingsklub seiner Familie. Aber der Teenager Lidberg wollte zu schnell zu viel, wie er heute sagt. Weil er kaum spielte, drang er auf einen Wechsel zu einem Zweitligaverein, da war er gerade 18.
Lidberg bekam seinen Willen. Was er nicht ahnte, es war der Beginn seiner Odyssee. In acht Jahren stand er bei neun Vereinen unter Vertrag. Von Schweden ging es schnell nach Norwegen. Dort wurde er zweimal für nur wenige Monate ausgeliehen. Krampfhaft versuchte er, sich zu empfehlen. Es gelang ihm nicht. Ein dunkles Kapitel in seiner Karriere.
Besser lief es in den Niederlanden, wo Lidberg in die erste Liga aufstieg. Zum Torjäger wurde er aber erst in Darmstadt. Dass es so kommen würde, hatte nicht einmal Sportdirektor Paul Fernie geahnt, der ihn im Sommer verpflichtete.
Lidberg nimmt sich vor, diese Zeit, die bislang schönste in seiner Laufbahn, auszukosten. Diesen Lauf zu verlängern, so lange es geht. Ob ihm das gelingt, davon hängt zugleich ab, ob der Aufschwung der Mannschaft unter Florian Kohfeldt weitergeht. Seit der Trainer da ist, hat nur eine Zweitliga-Mannschaft so viele Punkte (15) geholt wie Darmstadt: Hannover 96.
Der Tabellenführer empfängt die „Lilien“ am Samstag (13.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur zweiten Liga und bei Sky). Keine Mannschaft hat weniger Gegentore bekommen, nur zehn waren es für die Hannoveraner in zwölf Partien. Während Darmstadt noch nicht einmal zu null gespielt hat, ist es den Niedersachsen bereits sechsmal gelungen. Es ist eine Herausforderung wie gemacht für Isac Lidberg in der Form seines Lebens. Er reist als Nationalspieler an.