Tirols Schönheiten brachten Nieke Kühne ins Schwärmen: Die Berge, der Schnee, die kleinen Innsbrucker Weihnachtsmärkte – als man die Jüngste im Team so reden hörte, klang sie wie eine begeisterte Touristin. Der Rahmen stimmt bei den deutschen Handballspielerinnen, die an diesem Freitag (20.30 Uhr bei Sportdeutschland.TV) gegen die Ukraine in die Europameisterschaft starten, die in Österreich, Ungarn und der Schweiz ausgetragen wird.
Am Spielort Innsbruck warten am Sonntag die Niederlande und zwei Tage später Island. Als es dann um den ersten Auftritt in der Olympiahalle ging, klang Nieke Kühne nicht mehr wie eine Reisende, die sich an Natur und Sehenswürdigkeiten Österreichs erfreut: „Wir wollen mit einem hohen Sieg ins Turnier starten.“
Wurfstarke Talente in den Startlöchern
Die gerade 20-Jährige von der HSG Blomberg-Lippe verkörpert einen erfreulichen Trend: Nicht nur auf ihrer Position, sondern auch auf der anderen Rückraumseite steht in Viola Leuchter ein großes, wurfstarkes Talent in den Startlöchern. Vor allem für Nieke Kühne ist die Konkurrenz groß, hat sie doch die arrivierten Emily Bölk und Xenia Smits vor sich.
Bundestrainer Markus Gaugisch wird bei diesem Großereignis in Sachen Kadermanagement aber mutiger sein müssen, um weit zu kommen – denn bei den Olympischen Spielen und der WM vor einem Jahr wirkten seine Stammspielerinnen Bölk und Alina Grijseels selten auf der Höhe.
Von den beiden Auslandsprofis aus Budapest und Brest wird viel erwartet, zu viel? Oft wirkten sie überfordert, das Team auf ein medaillenträchtiges Niveau zu hieven. Deswegen könnten in den Tagen von Innsbruck und danach frische Kräfte helfen, die Deutschen ins anvisierte Halbfinale zu werfen.
„Habe einen sehr guten Eindruck vom Team“
„Wir nehmen wieder Anlauf, die Großen zu schlagen“, sagt Gaugisch, seit April 2022 verantwortlicher Trainer, „ich habe einen sehr guten Eindruck vom Team. Aber was Konstanz angeht, müssen wir noch Schritte gehen.“ Bei seinen zweiten kontinentalen Titelkämpfen erwarten den 50 Jahre alte Lehrer schwere Aufgaben – am Sonntag gegen die Niederlande wird es um zwei Punkte gehen, die der Sieger mit in die Hauptrunde nach Wien nimmt. Dort werden dann die Schwergewichte Norwegen und Dänemark versuchen, den Weg ins Halbfinale zu versperren.
Gaugisch sagt: „Wir wollen als Gruppenerster nach Wien. Gegen Holland haben wir, seit ich da bin, 50:50-Chancen. Die Bilanz gegen die Top vier ist aber nicht so gut.“ Zwar haben die Deutschen zuletzt alle 27 Spiele bei Turnieren und Qualifikationen gegen Teams gewonnen, die hinter ihnen in der Rangliste stehen – eine Stetigkeit, die auch Gaugischs Verdienst ist.
Für den von Präsident Andreas Michelmann geforderten Halbfinalplatz fehlen allerdings die Höhepunkte in Form von Erfolgen gegen Frankreich, Norwegen, Dänemark und Schweden. „Bei den Niederlagen waren nicht nur Klatschen dabei“, sagt Gaugisch, „aber sie sind uns in der individuellen Qualität voraus.“
Kopfzerbrechen über die Offensive
Während die Abwehr um Spezialistin Xenia Smits und Torhüterin Katharina Filter funktioniert, bereitete zuletzt die Offensive Kopfzerbrechen: Schlechte Quoten, viele Fehler, mangelnde Wurfkraft. Auch deswegen sollen möglichst viele „leichte Tore“ im Gegenstoß oder der zweiten Welle her, sind doch die Außenspielerinnen Jenny Behrend und Antje Döll verlässliche Kräfte und in guter Form.
Im Positionsangriff sollen Annika Lotts Einfälle helfen; sie wechselte im Sommer nach Brest und wirkt cool und selbstbewusst. Vielleicht entlastet ihr Mitwirken die Vielspielerin Alina Grijseels, die mangels Länge einen ganz anderen Gestaltungsstil pflegt.
Intern ist man von der Außenwahrnehmung – ein Team, das scheitert, bevor die Medaillen ausgespielt werden – genervt. „Wir waren nach vielen Jahren mal wieder bei Olympia“, sagt Lott, „und auch bei der EM wollen wir Fortschritte machen. Auf dem Papier sieht es vielleicht immer gleich aus – wieder im Viertelfinale ausgeschieden. Aber da muss man detaillierter hinschauen.“
Sie findet, dass der Abstand zu den Favoritinnen schrumpft. Es wäre an der Zeit, ein Jahr vor der zusammen mit den Niederlanden ausgerichteten Heim-WM zu zeigen, dass die Klischees vom deutschen Frauenhandball eingemottet gehören.